"Wo bist Du, König Stephan?“ – fragt Mihály Babits in seinem Gedicht Stadt des Heiligen Königs1.

Wo bist Du, König Stephan jetzt, als wir Dich brauchen? – stellen wir ebenfalls die Frage.

König Stephan, unser Staatsgründer ist hier bei uns.

Ebenso, wie er auch bei Bethlen, Rákóczi, Kossuth, Imre Nagy oder Mindszenty, Endre Ady und Attila József war. Stephan den Heiligen tragen wir in uns, er ist ein Teil von uns geworden. Dadurch, dass er das christliche Ungarn gegründet hat, dadurch, dass er unser Heimatland mit der bewussten Entscheidung zu einem Teil der westlichen Welt gemacht hat, hat er nicht bloß den Weg vorgezeichnet, den wir zu gehen haben, sondern auch einen unbestreitbar festen Platz in unserem Leben besetzt. Er ist hier bei uns im Alltag und auch an den Feiertagen, in den Schulen, im öffentlichen Raum, in unseren Kirchen, in den Krankenhäusern, in Gedichten, Romanen, Filmen und Rockopern hüben und drüben der Grenzen. Vor ihm neigen wir unser Haupt an unserem Nationalfeiertag, ihm danken wir für seinen Mut, für seinen Glauben, für seine Weisheit und für seine Demut. Stephan der Heilige ist der gemeinsame Nenner der Ungarn. Er ist ein Teil von uns, während er über uns steht und steht hinter uns, während er uns vorangeht.

Sehr geehrte Festgäste!

Es ist eine Ehre und zugleich erfreulich, dass wir heute – auf Anregung von Herrn Bürgermeister – in der Geburtsstadt unseres heilig gesprochenen Königs, in Esztergom, zu deutsch Gran zusammen feiern können. Nach dem 20. August des vergangenen Jahres in Székesfehérvár/Stuhlweißenburg können wir jetzt Zeuge dessen werden, dass diese für die Staatlichkeit Ungarns maßgeblichen Städte ein formales Bündnis miteinander eingehen.

Liebe Einwohner von Esztergom, geehrte Herren Bürgermeister, vielen Dank für die Einladung!

Die vielfach über jedes Verständnis hinausgehende und sich im Eiltempo ändernde Welt wird für die Menschen durch das Zuhause und durch die Feiertage lebenswert. Das Zuhause ist der Ort, an dem wir uns sicher wähnen, wo wir uns voller Gewissheit bewegen, wo wir zurechtkommen. Das Zuhause ist der Raum, den wir nach eigenem Geschmack und nach eigenen Wünschen gestalten können. Von hier aus fühlt es sich gut an, sich auf den Weg zu machen und hierher ist es gut, zurückzukehren.

Und um unterwegs nicht verloren zu gehen braucht es Feiertage. Besondere Tage, die uns als Wegmarke dienen und Sicherheit im Kreislauf der Zeit bieten. Sie machen unser

Leben erträglich, messbar, vergleichbar und planbar. Sie helfen, sich zu besinnen und nach vorne zu schauen.

Das Zuhause und die Feiertage – Fixpunkte in Raum und Zeit.

Es tut gut, laut sagen zu können, dass wir ein Zuhause haben. Die von Böen und Wirren heimgesuchte Ecke des Karpatenbeckens ist derjenige Ort auf der Welt, wo ein jeder Ungar ein Zuhause finden kann. Wir lieben den heißen Sand der flachen Tiefebene unter den nackten Füßen, die Stille im Mittelgebirge des Bakony, das spektakuläre Panorama des Donauknies nördlich von Budapest. Wir sind stolz auf das schönste Parlamentsgebäude der Welt, auf das Abenteuer, das ungarische (Binnen-)Meer zu durchschwimmen, die blau markierte Wanderroute quer durch das ganze Land zu beschreiten. Herzergreifend ist der Anblick des Balaton aus der Gemeinde Káptalantóti oder des Gebirgszuges des Bük aus Fehérkőlápa. Wir kennen den Duft und das Aroma der Äpfel aus der ostungarischen Region Szabolcs, den Zwetschgen aus dem südostungarischen Szatmár, den Marillen aus dem nordöstlichen Gönc, den Trauben der Vulkanhügel des Badacsony am Nordufer des Balaton oder der Wassermelonen aus dem südwestlichen Drávaivány. Wir sind zuhause am Seklerstein, in Novi Sad, in Gombaszög und in Munkatsch. Dieses von Flammen umloderte kleine Land haben wir nach unserem eigenen Antlitz geformt und es uns nach den eigenen Bedürfnissen wohnlich gemacht. Und bei alldem wissen wir, dass es die wunderschönen Schätze der Natur und zugleich die Einwohner braucht, um Ungarn reich und zugleich liebenswert zu machen.

Wir haben ein Zuhause und wir haben auch Feiertage. Der 20. August ist keine bloße verstaubte Tradition und auch keine moderne Party. Der 20. August ist ein Feiertag im vollsten Sinne des Wortes. Ein Feiertag, der uns immer und immer wieder an unsere Vergangenheit erinnert und unsere Zukunft Jahr für Jahr mit Hoffnung bereichert. Dabei wird das Unwesentliche verdrängt und das Wesentliche in den Vordergrund gerückt. Wir haben die Chance zu tiefgehenden Erlebnissen und Höhen zu erreichen, wo wir die selbstverständliche Zusammengehörigkeit der ungarischen Nation erleben können.

Ein solch erhebender Augenblick war heute Morgen, als die jungen Offiziere der Landesverteidigung ihren Diensteid geleistet haben, als zweihundert junge Menschen in ungarischer Uniform gleichzeitig schwören, die Unabhängigkeit ihrer Heimat, die Rechte und die Freiheit der Ungarn auch um den Preis des eigenen Lebens verteidigen zu werden.

Die gesamte Nation brachte der Stolz gestern Abend zusammen, als wir im brandneuen Leichtathletikzentrum, das weltweit seinesgleichen sucht, die bis dato größte in Ungarn ausgerichtete Sportveranstaltung, die Leichtathletik-Weltmeisterschaften eröffnet haben.

Das Gefühl der Zusammengehörigkeit konnten wir erleben, als wir am Vorabend mit etlichen zehntausend weiteren Menschen bei der überarbeiteten Aufführung der vor vierzig Jahren uraufgeführten Rockoper Stephan, der König2 gemeinsam singen konnten: gebe uns Frieden, O Herr!

Vor wenigen Wochen schlugen im Angesicht der Erfolge unserer Weltmeister im Säbelfechten, der Wasserballmannschaft der Herren, von Máté Koch, Hubert Kós, Kata Blanka Vas oder Dominik Szoboszlai all unsere Herzen im gleichen Rhythmus.

Während des dreitägigen apostolischen Besuchs von Papst Franziskus zog die unvergängliche Freue über die selbstredende Einheit der Nation in unsere Herzen ein.
Und die Kraft der nationalen Gemeinschaft bekommen wir zu spüren, als wir im beispiellosen Zusammenschluss den vor dem blutigen Krieg fliehenden Familien aus Transkarpatien und der Ukraine helfen.

Wir schätzen uns also glücklich. Wir können weder in Raum, noch in Zeit verloren sein, weil wir unsere Heimat haben, wir unsere Nationalfeiertage und besondere Augenblicke haben, als wir durch und durch zu spüren bekommen, dass uns mehr verbindet, als uns trennt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

An den Feiertagen setzen sich selbst diejenigen an einen Tisch, die im Alltag dafür keine Zeit, keine Chance, keine Achtsamkeit und keine Absicht haben. Und wenn wir uns schon an den Tisch setzen, das Brot brechen, einander ins Auge sehen und fragen: wie geht es dir? Wir Ungarn fragen noch dazu mit echter Neugier und beantworten ernsthaft diese Frage. Wir erzählen, wie es uns geht. Wir berichten, was die Kinder in der Schule erreicht haben, wie es der Oma geht, welche Meinungsverschiedenheiten wir mit dem Chef bekommen haben, was im engeren und weiteren Umfeld passiert ist. Wehe dem, wer uns fragt, wie es uns denn geht!

Während meiner anderthalbjährigen Präsidentschaft habe ich Menschen aus den Regionen Somogy, Nógrád, Szabolcs, Szatmár, Bereg, Komárom-Esztergom und auch aus Budapest. Ich fuhr nach Siebenbürgen, ins Oberland, ins Südland, an die Murau und nach Transkarpatien (und weil wir sogar seit der Adventszeit nicht mehr beisammen sein konnten, reise ich am Dienstag ab, um mich wieder mit den Ungarn in Transkarpatien treffen zu können). Ich habe mich auf den Schemel gesetzt, mir die Freude, den Stolz und die Sorgen und Zweifel angehört. Ich habe mich mit Eltern und Kindern, den Kindern und Erziehern im Ferienlager, den Kadetten und Eltern unterhalten, die ihre Soldatensöhne
verloren haben, mit Unternehmern und den Werkern in den Fabriken, mit Polizisten und Protestierenden, weiblichen Führungskräften, Küchenaushilfen, Pflegern und Priestern, Ärzten, Schülern und Studenten, wie auch Lehrern und Professoren. Diese Begegnungen haben mir die Möglichkeit eröffnet, die Frage zu stellen, wie es ihnen denn geht.

Jetzt setzte ich mich bildlich an Ihren Tisch und wende mich an Sie mit der Frage, wie es denn Ihnen geht?

Wie ertragen sie die Unwägbarkeiten, die aus dem anderthalb Jahre währenden Krieg in der Nachbarschaft entstehen?

Wie erdulden sie den Druck durch die Menschen, die rechtswidrig an den Südgrenzen in unser Land kommen?

Wie kämpfen sie gehen die hohen Preise, gegen die schwierigeren Umstände an?

Können sie sich über den Familienzuwachs, über die gute Ernte, über das frische Brot, über ein gutes Wort, über die Aufmerksamkeit, über die Fürsorge, über die Gemeinschaft freuen?

Wir können dankbar für das erfolgreiche und für die meisten Menschen in Ungarn einen Aufstieg bedeutende Jahrzehnt sein, das den unerwarteten Herausforderungen vorausgegangen ist. Die Corona-Pandemie hat tiefere und länger bleibende Spuren hinterlassen, als wir gehofft haben. Und die in unmittelbarer Nachbarschaft wütende Krieg wäre selbst dann eine herz- und seelenzerreißende Tragödie, eine schwere Prüfung des Lebens, wenn sie nicht am Ausklang der Pandemie über uns hereingebrochen wäre oder wenn keine, weit über die Grenzen hinausgehenden wirtschaftliche Widrigkeiten daraus entstanden wären. Auch ich habe die wirtschaftlichen Kennzahlen gesehen und sehe sie auch heute. Die Preise hierzulande sind unbestreitbar hoch. Ich weiß, dass auf die Jahre relativen Überflusses eine schwierigere Periode gefolgt ist. Aber ich weiß auch, wie stark es unser Befinden determiniert, wenn wir sehen, wohin es mit uns weitergeht. Wenn wir wissen, das Ärgste hinter uns zu haben, wenn wir wissen, dass es die Aussichten gibt, dass es morgen leichter und der darauffolgende Tag noch leichter sein wird.

Ich danke Ihnen, dass Sie nach vorne schauen. Ich danke Ihnen, dass Sie mit der von den Menschen in Ungarn gewohnten Beharrlichkeit, Zähigkeit und Kreativität, mit wiedererlerntem Fleiß über die schwierigen Zeiten hindurchkämpfen. Ich danke Ihnen, dass Sie statt uferlosen Wehklagen immer und immer wieder gewillt sind, die Ärmel hochzukrempeln und am Arbeitsplatz, in den Fabriken, auf dem Acker, am Schutz der Grenzen und auch gegen das Hochwasser, an den Schulen, in den
Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in den Ämtern oder an der Spitze der jeweiligen Gemeinschaften Ihren Mann und Ihre Frau zu stehen.

Ich danke Ihnen, dass Sie in der Lage sind, das Leben nicht von der Kehrseite, sondern von seiner besten Seite aus zu sehen. Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich nicht unterkriegen lassen! Danke dafür, dass Sie am Leben nach ungarischer Art glauben, dass Sie dazu beitragen, jungen Menschen ein Vorbild zu bieten, dem sie folgen können. Danke dafür, dass Sie fähig sind, Notleidenden eine Stütze zu sein und Hilfe zu bieten. Danke dafür, dass wir uns gemeinsam an die Zukunft klammern können.
Wie geht es Ihnen? – frage ich Sie. Und in der ehrlichen Antwort mag ein Quäntchen mehr Zweifel, Ungewissheit, Angst und Verbitterung stecken. Ich sehe das und höre die Stimmen voller Bedenken, stelle aber auch in der Verzagtheit die Kraft der Hoffnung fest. Der Feiertag gibt uns jetzt auch in dieser Hinsicht mehr Kraft. Der 20. August ist kein überflüssiges Touristenspektakel, der 20. August ist der Feiertag der Nation, die auf ihre Zukunft hofft und bereit ist, dafür auch zu handeln.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Das Erbe vom Stephan dem Heiligen gehört nicht nur seinem Sohn, Prinz Emmerich. Knapp tausend Jahre nach seinem Tod gab es in ganz Ungarn vielleicht niemanden geben, der nicht wüsste, wer König Stephan ist. Wir erhalten sein Andenken nicht als eine Gestalt der Geschichte, nicht als bärtigen Mann aus einem Wachsfigurenkabinett, sondern als Gründungsvater unserer das vielfach schmerzliche, blutgetränkte Jahrtausend voller Mühen überlebenden und sich immer und immer wieder aufrappelnden Nation. Die tausend Jahre währenden Lehren von Stephan dem Heiligen galten schon damals, als es weder Druckpressen noch Papier gab und sie werden auch dann ihre Gültigkeit haben, wenn wir vielleicht wieder kein Papier mehr benutzen werden.

Hinter mir, an der Donauseite, der Westfassade der Basilika von Esztergom steht ein Satz aus dem Brief an die Kolosser. Paulus mahnt in seinem Brief die Gemeinde der Kolosser die gleichen Tugenden an, auf die Stephan der Heilige Prinz Emmerich in seinen Ermahnungen hingewiesen hat. Beide rufen uns zur Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit, Mäßigung, Demut, Ehre und Nächstenliebe auf. Hören wir auf sie! Wenn wir unsere Entscheidungen nach diesen Werten treffen, werden wir uns von den Gewinnsüchtigen abheben und unsere Nachfahren werden stolz auf uns sein können. Bei diesen Werten können wir kein Deut nachgeben. Hier sind Kompromisse fehl am Platz. Wenn wir unser Leben nach diesen Wegweisungen leben, werden uns auch schwerere Tage nicht brechen können. Dann haben wir die Chance, den Herausforderungen erhobenen Hauptes und gestärkt entgegen zu sehen.

Wir wissen: wir sind weder in Raum, noch in der Zeit verloren, weil wir unsere Heimat und unsere Feiertage haben. Und dann müssen wir nur die Inschrift an der Fassade der Basilika beherzigen: „quae sursum sunt quaerite” – suchet, was droben ist!

Denn SEIN ist das Land, die Macht und der Ruhm.

Der Herrgott mag die Menschen in Ungarn und das Land hochleben lassen!